1. Mai 2024
Ausgabe 4/2020

Haben wir das Quartier verlernt?

Für Investoren und Projektentwickler ist es an der Zeit, den Quartiersgedanken neu zu verinnerlichen. Dazu ist es wichtig, mit überkommenen Gewohnheiten zu brechen und kurzfristige Sichtweisen zugunsten eines langfristig nachgefragten und gesellschaftlich relevanten Stadtquartiers zu vernachlässigen. Letztlich werden jedoch alle Seiten von dieser Neuorientierung profitieren – nicht zuletzt all diejenigen, die auf den Flächen wohnen, arbeiten oder ihre Freizeit verbringen.

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Dabei ist die Idee des gemischt genutzten Quartiers nicht neu. Sie ist tatsächlich auch keine Errungenschaft der Immobilienbranche. Vielmehr prägte die Verbindung von Wohnen und Arbeiten die Stadtbilder bereits in Zeiten, als es noch keine Projektentwickler und Stadtplaner nach heutigem Verständnis gab.
 
Das Quartier ist die älteste und natürlichste Form des urbanen Zusammenlebens: Im Mittelalter war die Stadt je nach Handwerk in einzelne Viertel unterteilt, Tuchmacher, Fleischer, Gerber hatten ihre jeweils eigenen Quartiere. Gewohnt wurde in der Regel über der Werkstatt oder dem Laden. Später, als sich die Wirtschaft immer weiter ausdifferenzierte, entstanden in vielen Städten Gewerbehöfe und ähnliche Quartiersformen – berühmt war vor allem die Hinterhofkultur in Berlin.

Die Trennung nach Funktionen ist künstlich geschaffen

Mit der Urbanisierung wuchsen aber auch die Probleme. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten schlichtweg zu viele Menschen auf zu wenig Raum, und die damaligen Produktionsbedingungen waren in vielen Fällen schädlich für die Gesundheit. Architekten und Stadtplaner mussten reagieren. In der sogenannten Charta von Athen wurde 1933 die Trennung nach Funktionen beschlossen – und es entstanden die heute bekannten Arbeits- und Schlafstädte mit immer größerem Pendelaufwand. Später kam der Anspruch an autogerechte Städte hinzu.

Ursprünglich war die Charta von Athen also eine wichtige städtebauliche Errungenschaft. Heute geht die Trennung von Wohn- und Arbeitsräumen allerdings an der Lebenswirklichkeit vorbei. Wir sind Teil einer digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft, und auch unsere Produktionsbedingungen sind sehr viel sauberer als damals. Im Jahr 2007 wurde der Leitgedanke zur Stadtentwicklung daher schließlich verändert. In der Charta von Leipzig sollte vor allem die Lebensqualität der Menschen im Mittelpunkt stehen.
 
Ein wichtiger Aspekt davon ist es, in Form von Mischnutzungskonzepten möglichst viele verschiedene Flächentypen miteinander zu kombinieren und somit die Entwicklung von Urbanität gezielt zu fördern. Zudem rücken heute moderne Mobilitätskonzepte inklusive einer effizienten Anbindung an die wichtigsten Bus- und Bahnlinien sowie Carsharing-Angebote in den Mittelpunkt, um den traditionellen Individualverkehr so weit wie möglich zu ersetzen.


Viele Bürotürme und wenig Urbanität: Die funktionale Trennung der Charta von Athen hat besonders in den USA für Monokulturen gesorgt
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Diversifiziertes Produkt für Investoren
 
Auch aus rein ökonomischer Sicht sind gemischt genutzte Areale mit eng verschränkten Wohn-, Büro-, Einzelhandels-, und Freizeitflächen in vielen Fällen sinnvoll. Einerseits sind die Einnahmen bei funktionierenden Quartieren bereits auf Objektebene diversifiziert. Steht beispielsweise eine Einzelhandelsfläche vielleicht aufgrund einer strukturellen Schwäche der Nutzungsart am Standort vorübergehend leer, können die Einnahmeausfälle von den anderen Flächentypen kompensiert werden. Hinzu kommt, dass ein reichhaltiges urbanes Angebot mit potenziell kurzen Wegen zum Arbeitsplatz letztlich auch die Wohnqualität erhöht und umgekehrt: Die einzelnen Nutzungsarten werten das Quartier in seiner Gesamtheit auf, Wohnen profitiert von Gewerbe und Gewerbe von Wohnen.
 
Entwickeln nach Schema F?
 
Seit mehr als zehn Jahren ist die Entwicklung neuer Quartiere sowohl planerisch-politisch gewollt als auch aus Investorensicht sinnvoll. Dennoch entstehen nach wie vor viele Mononutzungen. Daher drängt sich die Frage auf, ob die Immobilienbranche das Quartier schlichtweg verlernt hat.
 
Einer der Gründe, warum noch heute vergleichsweise wenige Mischnutzungen mit Quartiers- oder auch Campuscharakter entstehen, ist baurechtlicher Natur. Besonders dann, wenn ohnehin schon langwierige Bauplanungsrechtsverfahren durch nochmals intensivere Diskussionen mit der Gemeinde oder beispielsweise durch zusätzliche gutachterliche Nachweise rund um den Emissionsschutz noch länger dauern. Für einen Immobilienentwickler sowie für dessen Investoren ist dies eine Zeit des Stillstands, in der sich maximal durch Zwischennutzungen ein behelfsmäßiger Cashflow realisieren lässt. Natürlich eignet sich auch nicht jede Lage für die Entwicklung eines Quartiers – wenn nicht bereits eine gewisse Urbanität vorhanden ist, kann diese von einem Immobilienprojekt nicht einfach so „geschaffen“ werden.
 
Teilweise ist das Problem jedoch hausgemacht. In den 2010er-Jahren herrschte sowohl vonseiten der Investoren als auch der Mieter ein enormer Nachfrageüberhang – nicht nur bei Wohnungen, sondern auch bei Büroflächen. In Berlin und Hamburg betrugen CBRE zufolge die Leerstände im Bürosegment zu Ende des ersten Halbjahrs 2020 trotz Corona-Schock 1,5 beziehungsweise 2,6 Prozent. In München ist der Wert mit 3,0 Prozent nur unwesentlich höher. In Wien ging der Leerstand ebenfalls zuletzt infolge von Produktknappheit zurück, er beträgt aktuell 4,6 Prozent. Dieser Flächenmangel hat zur Folge, dass einige Entwickler möglichst viel Produkt auf den Markt bringen wollen – und um das zu bewerkstelligen, werden bereits zuvor realisierte Immobilienkonzepte oftmals leicht abgeändert und so schnell wie möglich umgesetzt und vorvermietet. Für die fünf größten deutschen Metropolen beziffert CBRE die Vorvermietungsquote der aktuell 4,7 Millionen Quadratmeter Entwicklungsvolumen auf über 50 Prozent.
 
Kurzsichtige Erfolge – langfristige Nachteile
 
So sehr der kurzfristige Erfolg den Entwicklern recht zu geben scheint, so problematisch sind allerdings die langfristigen Folgen. Erstens geht die Entwicklung von Monokulturen – wie erwähnt – sowohl am aktuellen Zeitgeist als auch an der Lebenswirklichkeit junger Menschen vorbei, die ein urbanes Arbeits-, Kultur- und Freizeitangebot vor der eigenen Haustür schätzen. Ob die aktuell gut vermietbaren Wohn- und Bürotürme in 15 oder 20 Jahren genauso stark nachgefragt sein werden, ist also zu bezweifeln. Für den Investor ergibt sich daher zumindest das denkbare Szenario von Preisabschlägen bei Wiedervermietung oder Verkauf.


Für Investoren und Projektentwickler ist die sogenannte Walkability ein entscheidendes Kriterium: Wie viele urbane Angebote lassen sich fußläufig erreichen?
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Zweitens werden die unter dem Kürzel ESG zusammengefassten Nachhaltigkeitskriterien für viele Investoren immer wichtiger. Hierbei geht es allerdings nicht nur darum, eine umweltschonende Energieversorgung zu realisieren und CO2-Emissionen so weit wie möglich zu verringern. Genauso wichtig ist die Frage, wie sich die Immobilie in das städtische Gesamtkonzept einfügt. Eine Wohnimmobilie nach höchsten Baustandards beispielsweise, die allerdings übermäßigen Pendelverkehr verursacht, ist eben nur scheinbar „grün“. Zudem bezieht sich der Begriff auch auf die Fragen der sozialen Nachhaltigkeit und auf den gesellschaftlichen Mehrwert, den ein Immobilienprojekt bieten kann. Dort ist eine Mononutzung verglichen mit einem modernen Stadtquartier klar im Nachteil.