26. April 2024
Ausgabe Q1/2022

Das FRANCIS wird neue Maßstäbe setzen

Als Geschäftsführer der Österreichischen Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft, kurz ÖGNI, ist Peter Engert überzeugt: Die nachhaltigsten Immobilien sind diejenigen, die nicht komplett neu gebaut werden müssen. Im gemeinsamen Interview erläutert er, welche Rolle das Thema graue Energie für seine Zertifizierungsarbeit spielt und warum auch er auf Pionierleistungen seitens der Entwickler angewiesen ist.

Herr Engert, lange Zeit standen bei den Zertifizierungssystemen wie dem der ÖGNI oder der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) Neubauten im Fokus. Ändert sich dies nun allmählich in Richtung Bestandssanierung?

Ja, das ist absolut der Fall. Zwar werden in Österreich und speziell in Wien nach wie vor zu wenige Bestandssanierungen beziehungsweise Revitalisierungen durchgeführt, doch zeichnet sich ab, dass die Taxonomieverordnung und der Green-Deal der EU sehr viel bewegen werden. Die Auswirkungen werden sich schon bald am Markt zeigen und die Branche vor Herausforderungen stellen, da Sanierungen sehr viel komplexer sind als der Neubau auf der grünen Wiese. Ich bin schon sehr gespannt, welche Marktakteure sich dieser Herausforderung stellen werden.

Wie zertifizieren Sie diese Bestandssanierungen?

Als ÖGNI überprüfen wir Gebäude in ganz Österreich hinsichtlich der Erfüllung der Kriterien der Taxonomieverordnung. Bei etwa acht von zehn Immobilien zeigt sich dabei, dass diese nicht taxonomiefähig sind. Dennoch möchten wir unsere Kunden nicht mit diesem Resultat allein lassen, daher haben wir das Zertifizierungssystem „Gebäude im Betrieb“ entwickelt. Damit zeigen wir niedrigschwellig auf, welche Schritte und Maßnahmen eingeleitet werden müssen, damit in drei bis fünf Jahren eine Taxonomiekonformität erreicht werden kann. Dieses Zertifikat wird aktuell sehr stark bei uns nachgefragt. Pilotprojekte wie das „FRANCIS“ im „Althan Quartier“, das vollständig konform ist, dienen dabei als Orientierungspunkt.

Welche Rolle spielt das Thema graue Energie für Ihre Zertifizierungen?

Gebäude müssen so geplant und umgesetzt werden, dass diejenigen Baustoffe mit hohem CO2-Aufwand – also beispielsweise Stahl oder Beton – möglichst für Jahrhunderte bestehen bleiben. Ein Abriss dieser Gebäudestrukturen wirkt sich besonders negativ auf die Öko- und Klimabilanz aus, auch wenn die Baustoffe teilweise recycelt werden können. Gebäudeteile wie Fassaden hingegen, die alle 20 oder 30 Jahre saniert werden müssen, sollten aus Materialien bestehen, die bei der Herstellung oder beim Bau kaum CO2 emittieren. Dementsprechend leicht sollten sie sich erneuern lassen. Diese Unterscheidung ist eine neue, wichtige Ebene für Neubauten, aber auch bei großflächigen Sanierungen. Sie kann aber nur dann erreicht werden, wenn wir weitsichtig planen und bauen. Weitsichtig heißt auch: größtmögliche Flexibilität mit Blick auf CO2-verträgliche Nutzerwechsel beziehungsweise wechselnde Bedürfnisse. Daher bin ich der Meinung, dass es keine Gebäudekonzepte mehr geben darf, die lediglich auf einen Nutzer oder eine Nutzungsweise abzielen. Wohin das führt, zeigt sich an jenem ursprünglich monogenutzten und wenig attraktiven Bürogebäude, das jetzt als positives Beispiel zum „FRANCIS“ revitalisiert wird – und andernfalls ein Fall für die Abrissbirne gewesen wäre. 

Welchen Stellenwert haben Projekte wie das „FRANCIS“ für die von Ihnen erwähnte Sanierungsoffensive?

Meiner Meinung nach ist das „FRANCIS“ ein Leuchtturmprojekt für ganz Österreich. Es wird mit Sicherheit zum Maßstab für weitere Revitalisierungen werden, was maßgeblich an drei Gründen liegt: Erstens entsteht kein zusätzlicher Flächenverbrauch, das Land wurde bereits vor langer Zeit versiegelt. Zweitens bleiben all die Bauelemente, die vor 40 Jahren viel CO2 emittiert haben, bestehen. Drittens zeigt sich der Quartiersgedanke am „FRANCIS“ und am umliegenden „Althan Quartier“ ganz besonders deutlich. Dies ist für mich auch persönlich ein wichtiger Aspekt, denn es wäre kurzsichtig, heutzutage ein Gebäude zu entwickeln und dabei nicht auf die Umgebung zu achten. Der 6B47 Real Estate Investors AG ist es gelungen, diese drei Elemente miteinander zu verbinden.

Inwieweit können andere Entwickler sich an diesem Beispiel orientieren – schließlich sind sie von Projekt zu Projekt mit unterschiedlichen Hürden und Bausünden konfrontiert?

Die Kriterien für eine klimaschonende Revitalisierung sind klar definiert: Flächenkreislaufwirtschaft und Abfallvermeidung gehören unter anderem dazu. Nun braucht es Projekte wie das „FRANCIS“, bei denen diese Aspekte umgesetzt werden. Für die ÖGNI sind solche Case-Studies äußerst wichtig, um unter anderem unsere parlamentarische Arbeit in Brüssel stärken zu können – denn das „FRANCIS“ dient uns, neben anderen Projekten, auch dort als Leistungsbeispiel. Es zeigt auf, dass solche Bestandsrevitalisierungen auch wirtschaftlich äußerst sinnvoll sein können und veranschaulicht, dass der soziale Nachhaltigkeitsaspekt – also der Quartiersgedanke – ebenfalls gut bei Sanierungsprojekten umgesetzt werden kann. Auf diese Weise wollen wir unseren Teil dazu beitragen, die Entwicklung der Taxonomie noch stärker in Richtung Bestandserhalt zu lenken. Dabei scheuen wir übrigens auch nicht die Opposition zu anderen Lobbys, die in Brüssel aktiv sind und davon abweichende Ziele verfolgen.

Welche Impulse erhoffen Sie sich für die Quartiers- beziehungsweise Sanierungsprojekte der Zukunft?

Was ich mir unter anderem für die Zukunft wünsche, sind noch besser durchdachte Mobilitätskonzepte mit öffentlichem Personennahverkehr, Kurzstreckenangeboten auf elektrischer Basis, Verbindungen mit Taxis und Mietfahrzeugen und Ähnlichem – und zwar aus einer Hand. Auch bei Fragen nach dem Energieverbrauch und der Verfügbarkeit beziehungsweise der Vor-Ort-Stromerzeugung könnte es gemeinsame, digital gestützte Lösungen geben. Damit wir jedoch diese Schritte zum Quartier der Zukunft gehen können, müssen die Projektentwickler unbedingt ihr Wissen von heute teilen. Ich sehe hierbei auch ganz ausdrücklich die 6B47 in der Verantwortung, Einblicke in das Projekt „FRANCIS“ zu geben und transparent zu erklären, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt aus welchen Gründen umgesetzt wurden.